Angela

Bahnhof Zoo, fünf Uhr morgens. Kalt bläst der Wind über die Bahnsteige. Im Neonlicht blinzeln müde Augen dem Morgen entgegen. Gehetzte eilen die Rolltreppe hinauf. Bleiben stehen, ein Blick auf den Fahrplan, ein Blick auf die Uhr mit dem roten Zeiger, lehnen sich seufzend gegen die Plakatwand, weil alle Sitzplätze belegt sind oder beschmiert mit Tomate und Mayonnaise und Asche... Werden aus Gejagten zu Wartenden, still ihren Pulsschlag meditierend. Dicke Mäntel, Handschuhe, Stiefel, Schals. Gesichter in Kapuzenrahmen aus Fellimitat; die Wangen rotgefroren in der Kälte; kleine Wolken aus Atemlosigkeit vor dem Mund. Die Gesichter werden leer, während sich die Aufmerksamkeit nach innen verlagert. Mechanisch werden Taschentücher hervorgezogen. Zeitungen werden umständlich ausgebreitet. Dreizehn Schlagzeilen verkünden Gleichlautendes, rot unterstrichen.

Seit zehn Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich wundere mich darüber, daß mein Herz so aufgeregt pocht. Es ist nur ein dummes Klischee; tausend wertlose Liebesromane gibt es darüber, und doch: Die erste Liebe deines Lebens vergißt du nie. Gedankenfetzen fliegen durch meinen Kopf: Wie sie wohl aussieht? Ob sie ihr Haar immer noch färbt? Rotbraun wie Kastanien, glänzend in der Sonne... Ich erinnere mich, wie ihr feines Lächeln mir den Atem genommen hat, immer wieder...

Angela! Ihretwegen habe ich mich mit meinen Eltern zerstritten. Sie haben es damals nicht verstehen können, daß es mir wichtiger war, mit ihr zusammen zu sein, als für mein Examen zu lernen. Die drei Jahre voller Zärtlichkeit, die Gespräche und die Feste, die wir gemeinsam feierten, und vor allem die gemeinsame Reise nach Irland waren für mich so wertvoll, daß es mir gar nichts ausmachte, das Examen noch einmal zu wiederholen.

Wieder ein Blick zur Uhr. Noch eine viertel Stunde, bis der Zug kommt. Eng wird es auf dem Bahnsteig. Die Gesichter werden mürrischer. Die unangenehme Gewißheit, wieder einen Arbeitstag vor sich zu haben. Acht Stunden am Schreibtisch, an der Ladenkasse, am Löttisch in der Platinenfertigung - und dann erst wieder zu Hause, wenn es schon dunkel ist. Wer im Winter arbeitet, sieht oft wochenlang die Sonne nicht...

Dann ging unsere Liebe in die Brüche. Wie immer war ein scheinbar nichtiger Anlaß der Auslöser. Wir planten gemeinsam eine Feier zu Silvester, und wir konnten uns nicht einigen... Ach, was weiß ich. Tatsache war wohl, daß ihr unser Miteinander zu langweilig geworden war. Und eine kleine Feier im Kreis der Freundinnen und Freunde war ihr auch nicht mehr aufregend genug. So kam es, daß wir nach drei Jahren zu verschiedenen Feiern gingen; ich feierte zu Hause und sie ging zu einer Party, wo hundert wildfremde Leute zusammen tanzten...

Am nächsten Tag kam sie wieder, um ihre Koffer zu packen. Mehmed hieß er, er war ein Kurde und hatte in dieser Nacht mit ihr geschlafen. Danach war für sie alles klar. Sie ließ mir nicht eine Chance...

Seit zehn Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen. Aber ich konnte sie nie ganz vergessen. Manchmal habe ich geschrieben, Ostern, Weihnachten. Ihr Geburtstag steht immer noch in meinem Kalender. Manchmal sehe ich eine Frau, die mich an sie erinnert. Aber keine lacht wie sie.

Dann kam ihr Anruf. Aus München kommt sie mit dem Zug. Sie will mich sehen. Nein, nichts Besonderes. Nur mal über alte Zeiten reden. Wohnen will sie im Hotel. Ansonsten hat sie zu tun in der Stadt, geschäftlich. Aber zwei Stunden hätte sie Zeit, wir könnten irgendwo Kaffee trinken. Wir könnten uns am Bahnhof treffen. Ja, um halb sechs. Ja, morgens. Zu zweit wäre es nicht so kalt in der Stadt.

Der Zug kommt. Laut quietschen die Bremsen. Gewisse Dinge ändern sich ein Jahrhundert lang nicht. Die Pendler drängen in den Zug, der sie weiter nach Norden bringt, zu ihrer Arbeit. Andere steigen aus, mit Aktentaschen und Koffern. Auf einmal ist der Bahnsteig leer. Angela? Am Ende des Zuges ist der Gepäckwagen. Dort laden einige Leute eine große Kiste aus. Rotbraun wie Kastanien. Ein Sarg... Ihre Eltern sind da. Sie weinen lautlos, sehen mich nicht. Die Frau, die ich liebte, ist lang schon tot.


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Erste Veröffentlichung: 4.12.1997 von Sansibar
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