Brief an mein ungeborenes Kind

Mein liebes Kind!

Nimm's mir nicht übel, aber mit meinen Erbanlagen wärst Du todsicher zum Außenseiter geworden! Kein Wunder, denn Du hättest scheiße ausgesehen. Du hättest die falschen Klamotten getragen, die falsche Musik gehört, keine Freundin und dafür Klassenkeile gekriegt. Psychotherapie, Suizid oder gar Modellbahnerei wären die unausweichlichen Folgen gewesen - Folgen, vor denen kein anderer als ich Dich bewahrt hat.

Ich könnte eine Menge Steuern sparen, wenn ich Dich hätte, das kannst Du mir glauben! Frag mal meinen Steuerberater! Überhaupt wäre mir manches im Leben leichter gemacht worden. Wenn ich allein an die kinderlosen alten Krähen denke, die meine Vorgesetzten sind und die immer ach-so-kinderlieb tun, sobald ein Balg wie Du auftaucht  - - - jawohl, wie Du!

Die größten Dusselköppe sammeln Punkte und machen Karriere, sobald sie nur eines vorweisen können - ein Kind! Dann stellen sich all die alten Krähen, die in dieser schlechten Welt das Sagen haben, um das Kind herum und rufen: "Ach, wie niedlich!"

Der Erzeuger darf sich in dem ihm ganz zu Unrecht zugeschriebenen Ruhm sonnen, das Kind sähe ihm angeblich "ähnlich" - und das, wo jeder denkende Mensch weiß, daß alle Babies gleich aussehen! Anschließend wird er dann postwendend befördert ("junge Familie" und so).

Und ich? Wo bleibe ich? Wenn ich das schon höre: "kinderlieb"! Wer ist eigentlich holgerlieb? Ich war schließlich auch mal jung und bin bestimmt auch heute noch sehr viel niedlicher als ein so verschrumpeltes Balg, wie Du es nie warst. Und in die Hosen mache ich auch nicht mehr!

Aber was nützt mir das? Ich bin ja bloß der Fußabtreter für die feinen Damen und Herren Kinderbesitzer! Und als wäre das nicht genug, muß ich mir auch noch nachsagen lassen, ich würde mit der Zeit älter werden!

Dabei hätte ich all die Vergünstigungen, die man den Kinderinhabern leichtfertig hinterherwirft, auch haben können. Um nichts hätte ich mich zu kümmern brauchen. Alles hätte Vater Staat mir abgenommen: Kindergarten, Schule, schließlich deine Arbeitslosenunterstützung... Wir hätten uns erst an deinem 18. Geburtstag zu begegnen brauchen, und da wäre ich bereits ein gemachter Mann gewesen - wenn ich allein an das Kindergeld denke, das mir deinetwegen entgangen ist!

Wenn ich Dir das in Rechnung stelle, mußt Du dafür sehr lange stricken, mein liebes Kind - aber so bin ich ja gar nicht. Im Gegenteil, alles Böse habe ich immer nur von Dir fernhalten wollen. Hatte ich nicht immer Verständnis für Dich - sogar im Übermaß? Ersparen wollte ich Dir vor allem, womöglich selbst einmal kinderlos zu sein, von aller Welt verlassen, von den Kinderhaltern verachtet - so wie ich. Hast Du daran je gedacht? Demütigungen wollte ich Dir ersparen, wie ich als Kinderloser sie deinetwegen in all den Jahren habe erleiden müssen - doch hast Du von mir deshalb je ein Wort der Klage gehört?

Nur unterstützen habe ich Dich wollen, als ich Dich nie zeugte. Für wen habe ich das denn unterlassen? Doch nur für Dich, einzig und allein für Dich! Ich weiß, ich weiß, deine Generation hat ihre eigenen Wertvorstellungen; Dankbarkeit ist für euch ein Fremdwort. Soll ja auch alles sein, Jugend gehört zur Jugend, aber denke bitte auch ein einziges Mal an die Entbehrungen, die ich deinetwegen auf mich genommen habe!

Ich wollte es anders machen als damals meine Eltern. Du solltest es einmal besser haben. Immer hatte ich nur Dein Wohl im Auge - und hatte ich nicht immer Verständnis für Dich, selbst wenn Du nie für mich da warst? Du hattest doch nun wirklich alle nur erdenklichen Freiheiten. Habe ich Dich jemals gegängelt? Habe ich Dir das Fernsehen oder dein eigenes Handy verboten? Selbst Haustiere waren nie ein Thema. Überhaupt: Habe ich Dir jemals irgend eine Bitte abgeschlagen? Nur beschützen wollte ich Dich - vor dem, was unweigerlich und so sicher wie das Amen in der Kirche auf jeden Schulanfänger zukommt: Kurzsichtigkeit, Hornbrille, Demütigung, Verzweiflung, schließlich der soziale Abstieg, Drogensucht, Prostitution, Jugendkriminalität und, schlimmer noch - die Rechtschreibreform!

Gewiß, niemand ist perfekt. Vielleicht, nein, sicherlich habe auch ich in deiner Erziehung den einen oder anderen Fehler gemacht. Aber dennoch hast Du doch unendlich viel mehr Freiheiten, als ich zu meiner Zeit je erhoffen Durfte! Und wovor nicht alles habe ich Dich in meiner Selbstlosigkeit bewahrt: Zahnschmerzen - Liebeskummer - die Kellyfamily ... Sag selbst und sei doch bitte, bitte, einmal ganz ehrlich, auch wenn die Jugend heutzutage nicht mehr viel auf das Wort eines erfahrenen Menschen gibt: Darf ich da nicht ein bißchen, ein ganz klein wenig, wirklich nur ein winziges Stückchen Dankbarkeit erwarten?

Aber nein, das ist wohl zuviel verlangt. Das liebe Kind hat es ja nicht nötig, sich um seinen alten Vater zu kümmern. Andere Dinge sind ja wichtiger! Wer fragt schon nach mir. Ich bin ja bloß der alte Mann, dem Du alles zu verdanken hast.

Und so frage ich Dich auch in diesem Jahr:

Wo warst Du eigentlich zu Weihnachten ????


Aus der © CHAT NOIR Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Erste Veröffentlichung: 28.12.1999 von Holger
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